Lt. Umfragen rangiert jetzt die Angst vor einem Welt- und Atomkrieg vor den bleibenden Ängsten, wie Klimakatastrophe, Wirtschaftskrise oder Corona. Das sind berechtigte Ängste. In Deutschland könnte man zu der Ansicht kommen, die ganze Welt verurteilt nur noch Russland. Bei genauerem Betrachten ist das Problem etwas komplexerer. Wie aber soll man genauer betrachten, wenn alles Pro-russische ausgeblendet wird.
Alles dreht sich nur noch um Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine. Aber es gibt auch warnende Stimmen, die in der Eskalation dieses Krieges ein Risiko zu einem atomaren Konflikt sehen. Selbst „Russland-Versteher“ ist zu einem Kampfbegriff mutiert, mit dem jegliche Kritik an westlicher Politik abgewertet oder gar diffamiert wird. Kritiker kommen gar nicht mehr zu Wort. Und wenn, werden sie z. B. im Talkshow Format 4 gegen 1 niedergemacht. Dabei sind Russland-Versteher mitunter lediglich Menschen, die ethische Werte einfordern und Besonnenheit anmahnen. Im Mainstream der offiziellen Medien sind nur noch pro-westliche Stimmen zu hören oder zu sehen. In Talkshows wird „diskutiert“, ob ein Oppositionsführer dem Bundeskanzler vormachen muss, wie man in der Ukraine Bilder produziert. Nicht etwa Bilder über einen Krieg, in dem Menschen sterben, sondern über brutale Russen, die Kinder morden und Frauen vergewaltigen. Das Thema Verhinderung eines Krieges durch Verhandlungen wird gänzlich ignoriert.
Um nicht missverstanden zu werden: Aggressionskriege sind zu verurteilen und das Recht auf Verteidigung der Souveränität seines Landes ist legitim. Das entbindet aber weder den Aggressor zur Pflicht, den begonnenen Krieg zu beenden, noch den Verteidiger zur Pflicht, sich auf Verhandlungen einzulassen. Jeweils im Interesse von Menschenleben, die sinnlos sterben, solange kein Waffenstillstand erreicht wird. Waffenlieferungen in Kriegsgebiete dienen nur dazu, den Krieg zu verlängern. Die USA sehen in dem Krieg Russlands offiziell einen Angriff auf die ukrainische Souveränität. Es ist aber auch eine günstige Gelegenheit, Russland als Aggressor erklärtermaßen zu „schwächen“ oder besser zu vernichten. Erreichen Sie ihr Ziel, wird der Krieg zu einem Stellvertreterkrieg, ähnlich wie in Syrien, der dann aber auf europäischen Boden ausgetragen wird. Die Ukrainer haben dann keine Möglichkeit mehr, ihr Land zu verteidigen, weil ihr Verteidigungskrieg nicht mehr legitim wäre.
Mit großer Mehrheit hat die UN-Vollversammlung den russischen Krieg in der Ukraine verurteilt. 141 von 193 Staaten stimmten dafür, also gegen den Krieg. Viele dieser Länder, insbesondere der westlichen Welt, waren schon immer aus politischen und geo-strategischen Gründen gegen Russland. Die Elite des Westens steht fast geschlossen hinter die Ukraine, beliefert sie mit Waffen, geht gegen den Aggressor Russland mit Wirtschaftssanktionen und mit Waffenlieferungen vor und hat sich somit zur Kriegspartei gemacht. Das Ergebnis der Resolution wurde vom Westen als Sieg gefeiert. Aber der Westen ist nur die halbe Welt. Daran soll hier erinnert werden.
Außer Russland stimmten 4 Staaten gegen die Resolution. Belarus blieb auch nach der Auflösung der Sowjetunion engster Verbündeter Russlands. Nordkorea ist wie Belarus direkter Nachbar Russlands. Die USA griffen in den 50er Jahren antikommunistisch motiviert in den Korea-Krieg direkt ein, was zur Spaltung des Landes führte. Die Sowjetunion dagegen unterstützte Nordkorea im Kalten Krieg wirtschaftlich und militärisch. Syrien bat Russland im Stellvertreterkrieg des Westens gegen Assad (Regimechange) und bei der Bekämpfung des Islamischen Staates um Unterstützung. Russland habe das Recht, sich dem „Expansionismus der Nato“ entgegenzustellen. Eritrea versucht mithilfe Russlands die von den USA verhängten Sanktionen zu umgehen.
35 Länder enthielten sich der Stimme aus den unterschiedlichsten Gründen. Sie verurteilen auf der einen Seite den Krieg und die Einmischung in die Souveränität eines Landes, billigen aber auf der anderen Seite nicht die Wirtschaftssanktionen und die Fortsetzung des Krieges durch Waffenlieferungen.
Republiken der ehemaligen Sowjetunion, wie Armenien, Kasachstan, Kirgisistan oder Tadschikistan, haben noch enge wirtschaftliche Verbindungen, bzw. sind haben vertragliche Beziehungen mit Russland.
China als wirtschaftliche Weltmacht verbindet mit Russland als militärische Weltmacht ein Nachbarschaftsvertrag. China verurteilt zwar den Krieg Russlands, aber zugleich auch die Wirtschaftssanktionen des Westens. Zudem unterstützt es diplomatische Bemühungen, den Krieg zu beenden. Auch Indien hat eine neutrale Haltung zum Ukraine-Krieg eingenommen. Es fordert einerseits eine sofortige Waffenruhe, trägt aber die westlichen Sanktionen nicht mit. Die traditionell engen Beziehungen zu Moskau, die auf die Zeit des Kalten Krieges zurückgehen, will Indien nicht gefährden.
Fast die Hälfte davon kommt aus Afrika, wo man „die Nato-Expansion nach Osten für den Krieg verantwortlich“ macht und eine „westliche Doppelmoral“ beklagt. Viele afrikanische Länder sind, wegen der Unterstützung der Sowjetunion antikolonialer Bewegungen, noch immer freundschaftlich mit Russland verbunden, wie z. B. die Republik Kongo, Angola, Mali, Namibia, Senegal, Südafrika, Sudan, Tansania oder Simbabwe.
Algerien enthielt sich, weil es im Kampf gegen die Kolonialmacht Frankreich von der Sowjetunion unterstützt wurde und steht an der Seite der Westsahara-Befreiungsfront Polisario gegen Marokko. Die völkerrechtswidrige Annektierung der Westsahara durch das autokratisch regierte Königreich Marokko wird von Europa akzeptiert. Deshalb beliefert Algerien die ehemalige Westsahara-Kolonialmacht Spanien nicht mehr mit Gas, womit der Gaskrieg Europas gegen Russland weiter eskaliert. Spanien blockiert in Katalonien den Bau der Mid-Cat-Pipeline nach Frankreich, durch die algerisches Gas nach Deutschland fließen sollte. Die katalanischen Separatisten werden von Spanien nicht anerkannt, im Gegensatz zu den Separatisten im Donbass.
Linke Bewegungen Lateinamerikas in Ländern wie Kuba und Nicaragua, Bolivien, El Salvador oder Nicaragua wurden in ihrem Befreiungskampf und gegen die direkte äußere Einmischung der USA, die Lateinamerika als ihr Hinterhof betrachten, von der Sowjetunion und später von Russland unterstützt.
Länder des globalen Südens, wie Mexiko und Pakistan oder auch Mongolei, Iran, Irak oder Pakistan, beteiligen sich nicht an Wirtschaftssanktionen gegen Russland und enthielten sich der Stimme. Indien vertritt Deeskalation der Spannungen unter Berücksichtigung der legitimen Sicherheitsinteressen aller Länder. Die Enthaltung der Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) im Sicherheitsrat ergab sich aus dem Jemen-Konflikt. Obwohl Moskau Teheran nahesteht, unterstützt Russland die Ausweitung des Waffenembargos gegen die Huthi-Rebellen. Abu Dhabi wollte dieses Votum nicht gefährden. Westliche Vertreter warfen dem Land zynisches Verhalten vor.
Amerikaner wie auch Europäer glauben der Nabel der Welt zu sein. Dem ist aber schon längst nicht mehr so. China, Indien, Brasilien, Iran und zahlreiche andere Schwellenländer haben sich auf die Seite Russlands gestellt, weil sie den Krieg gegen die Ukraine auch als einen Stellvertreterkrieg des Westens gegen Russland verstehen. Für sie ist es damit ein Krieg gegen ehemals mächtige Kolonialstaaten. Aus der Sicht kolonialistischer Erfahrungen in diesen Ländern wirkt die Erzählung von der Verteidigung westlicher Werte zynisch und offenbart wieder einmal die Doppelmoral des Westens. Putin spricht die antiamerikanischen und antieuropäischen Ressentiments in diesen Ländern an. Russland steht für sie an der Spitze des Widerstands gegenüber dem Westen, der sich auf Menschenrechte beruft, aber eigentlich nur nach der Weltherrschaft strebt. Ami go home, ein politisches Schlagwort, das man nicht nur in diesen Ländern seit dem Kalten Krieg immer wieder hört.
Europa ist sich einig bei der Verurteilung eines Aggressionskrieges, aber uneinig darüber, wie weit man bei Wirtschaftssanktionen und militärischer Unterstützung geht. Die Balkanrepublik Serbien respektiert einerseits die territoriale Integrität von Ländern, erinnert sich aber noch sehr gut an die völkerrechtswidrige Aggression der Nato gegen Jugoslawien. Die ehemals blockfreien Staaten wurden von der Sowjetunion und später von Russland unterstützt. Auch Ungarn und die Slowakei stimmten zwar für die Verurteilung der Invasion, schließen sich aber nicht den Wirtschaftssanktionen gegen Russland an. Sie können es sich schlicht nicht leisten, sich dem Öl-Embargo der Europäischen Union gegen Russland anzuschließen. Auch Spanien, Italien, Portugal, Österreich und Griechenland treten auf die Bremse. Sie fürchten Versorgungsengpässe und weiter steigende Preise. Uneinigkeit besteht auch darüber, ob Gaslieferungen in Rubel bezahlt werden, wie von Russland gefordert. Noch sind die wirtschaftlichen Folgen dieses Embargowahns in Europa völlig ungewiss. Ein ehemaliger Bundespräsident warnte schon mal, man müsse für die (seine) Freiheit auch mal frieren können.
Israel stimmte ebenfalls gegen den Krieg Russlands, verzichteten aber auf Rücksicht der bestehenden Bindungen auf Sanktionen. Es koordiniert seit Jahren seine militärischen Aktivitäten in Syrien mit Russland. Außerdem leben in Israel etwa eine Million Menschen, die aus Russland sind. Brasilien vermied es, Russland als Aggressor zu bezeichnen, ebenfalls wegen wirtschaftlicher Abhängigkeiten.
12 Länder, wie Usbekistan, Turkmenistan oder Aserbaidschan nahmen nicht an der Abstimmung teil, sind aber wirtschaftlich ebenfalls mit Russland noch eng verbunden. Venezuela wurde von der UNO suspendiert und nahm daher ebenfalls nicht teil. Es ist als einer der wichtigsten Erdöl-Produzenten seit Jahren auf einem pro-russischen Kurs und hat starke wirtschaftliche und militärische Bindungen mit Russland. Venezuela wird von den USA bedroht und mit Wirtschaftssanktionen belegt und wird von Russland unterstützt.
Die Weltkarte hat sich nach dem Zerfall der Sowjetunion farblich stark geändert: Den Warschauer Vertrag als Gegenpol im Kalten Krieg gibt es nicht mehr. Die Chance, den Moment zu nutzen, um die Welt friedlicher zu gestalten, wurde nicht genutzt. Russland wollte sich dem Westen nähern, der Westen hatte daran kein Interesse. Die hochgerüsteten NATO-Staaten haben sich vermehrt und sind näher an Russland herangerückt. Wobei Russland das Recht auf die Wahrnehmung einer Gefahr abgesprochen wird. Der Einfluss Russlands wurde zurückgedrängt, der Einfluss des Westens ist entsprechend gestiegen. Länder, die sich enthalten haben, verurteilen zumeist ebenfalls den Krieg der Ukraine, schließen sich aber nicht der Russophobie des Westens an. Viele dieser Staaten haben noch immer gute Beziehungen zu Russland oder sind einfach nur wirtschaftlich abhängig. Viele dieser Beziehungen zu Russland haben sich schon im Kalten Krieg herausgebildet, weil die Sowjetunion aus politischen Gründen Staaten unterstützt hat, die einen fortschrittlichen, links gerichteten Weg eingeschlagen haben oder einschlagen wollten. Die USA dagegen wollte das, antikommunistisch motiviert, um jeden Preis verhindern. Die Sowjetunion hat auch Staaten unterstützt, die sich von den alten Kolonialmächten unabhängig machen wollten. Vom Westen ausgeschlossenen Länder schließen sich anderen Bündnissen an. Z.B. OVKS mit Sitz in Moskau, oder die Shanghaier Organisation für wirtschaftliche und militärische Zusammenarbeit oder die BRICS-Staaten (mit Russland, China, Indien, Südafrika und Brasilien), eine Vereinigung aufstrebender Volkswirtschaften. Diese Bündnisse spiegeln sich im Abstimmungsverhalten in der UNO wider. Allein die BRICS-Staaten haben ein Weltbevölkerungsanteil von 42 % und ein Weltwirtschaftsanteil (BIP) von 32 %. Das sind die Rahmenbedingungen, die das Gewaltpotential des Westens einschränken.