Der Krieg in der Ukraine bedeutet eine Zeitenwende. Das militärische Kräfteverhältnis zwischen der NATO und Russland ist gerade dabei, sich neu auszurichten. Auch das geopolitische Verhältnis zwischen dem sogenannten Wertewesten und der anderen Hälfte der Welt gestaltet sich neu. Dabei gestalten sich die herrschenden Welt- bzw. Spiegelbilder neu.
Bei jenen z-B., die in den vergangenen fünfzig Jahren geboren wurden, konnte der Eindruck entstehen, dass die Politik des Westens sich schon immer an Menschenrechten orientiert hat. Dem ist aber nicht so. Die Forderung nach Menschenrechten ist kein Produkt der westlichen bürgerlichen Gesellschaften. Die westliche Werteorientierung entstand erst in den 1970er Jahren. Bis dahin war im Westen die Ideologie des Antikommunismus gesellschaftlich bestimmend. Ursprünglich wurde die Einhaltung der Menschenrechte von der internationalen Arbeiterbewegung gefordert und ist entstanden mit der Pariser Kommune.
Die sozialistischen Ziele der Arbeiterklasse, die im Ergebnis der Revolutionen nach dem 1. Weltkrieg und mit dem Ende des feudalistischen Gesellschaftssystems entstanden, bedrohte die Herrschaft des Bürgertums als Nachlassverwalter der Monarchen. Nach dem 2. Weltkrieg wurde unter amerikanischer Führung mit den Schlagworten „Rollback and Containment“ und der Domino-Theorie der Versuch der Vernichtung des Sozialismus betrieben. In der Zeit des Kalten Krieges wurde die aus westlicher Sicht totalitäre Ideologie des Kommunismus die freiheitliche Alternative des „American way of live“ gegenübergestellt. Die westliche Lebensart, Demokratie und den individuellen Freiheiten sollte den Menschen Wohlstand bringen und sie „von kommunistischer Unterdrückung befreien“. So sah man im Westen die Welt. Das war ein Trugschluss, wie die weltweiten Proteste gegen den Vietnamkrieg und die Niederlagen der USA in Korea, Vietnam, Laos und Kambodscha zeigten. 1970 war in Chile der Sozialist Salvador Allende zum Präsidenten gewählt worden. Zeitgleich begann das portugiesische Kolonialreich in Afrika unter der Führung von meist marxistisch orientierten Befreiungsbewegungen zu zerbrechen. Mit der Revolution der Nelken im April 1974 in Portugal drohte erstmals seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs der Sozialismus auch wieder in einem europäischen Land Einzug zu halten. Gegen Ende der 1970iger Jahre ersetzte der amerikanische Präsident Jimmy Carter den militärischen durch den ideologisch-moralischen Kampf und die USA erklärte sich stattdessen zum Verfechter der Menschenrechte. Nach Nine Eleven 2011 erklärten die USA dem „Terrorismus“ den Krieg. Sie bestimmten die Weltordnung und benannten Staaten, die gegen die sogenannten westlichen Werte verstießen, schlichtweg als „Schurkenstaaten“.
Das werteorientierte, westliche Weltbild zerfällt gerade aufgrund der Widersprüche zwischen seinen Ansprüchen und dem eigenen Handeln. Seit der vom Westen verkündeten Zeitenwende werden die westlichen Werte geschleift, mit denen man sich eigentlich von den sogenannten Schurkenstaaten abgrenzen wollte. Waffen werden in Krisengebiete geliefert. Laufzeiten von Atomkraftwerken werden verlängert, die Kohlenutzung wird wieder ausgeweitet, CO₂-Bilanzen spielen keine Rolle mehr. Wenn es um dringend benötigte Energie geht, beziehen sie diese auch von Schurkenstaaten, um jeden Preis. Marktwirtschaftliche Prinzipien werden über Bord geworfen. Auf Menschenrechtssituationen in diesen Staaten wird gepfiffen. Staatliche Vermögen werden beschlagnahmt, privates Eigentum eingezogen. Selbst Pipelines werden zerstört. Mit Sanktionen wird die Weltwirtschaft lahmgelegt, unbequeme Informationsquellen werden blockiert und abweichende Meinungen als Bedrohung behandelt. Doppelmoral wird zum Standard. Kein politisches Thema mehr, bei dem nicht mit zweierlei Maß gemessen wird. Die Werteorientierung wird reduziert auf den Kampf zwischen Demokratie und Autokratie. Das autokratische Russland wird wie China, Iran und Venezuela bekämpft, während man mit den nicht minder autokratischen Saudi-Arabien, Katar, Vereinigte Arabische Emirate und Aserbaidschan zusammenarbeitet.
Russland ist unter Bruch des Völkerrechts in der Ukraine einmarschiert. Daran gibt es nichts zu deuteln und ist zu verurteilen. Aber ist das der erste Krieg in der Menschheitsgeschichte oder zumindest seit dem Ende des Kalten Krieges? Die Meinungsmacher im Westen erwecken diesen Eindruck. Dass der Westen im kalten Krieg viele Angriffskriege geführt hat (gegen Jugoslawien, Irak usw., usw.) scheint vergessen zu sein, bzw. wird bewusst verdrängt. Keiner dieser völkerrechtswidrigen Angriffskriege wurde je im Westen verurteilt. Kein Aufschrei ging um die Welt. Alle diese vom Westen initiierten Kriege wurden mit Lügen begründet. Alles im Sinne westlicher Werte. Solange die Welt so ist, wie sie ist, kann kein Frieden entstehen.
Man kann nicht gegen jedwede Waffenlieferung sein, und gleichzeitig Waffenlieferungen in die Ukraine befürworten. Selbst linke Politiker reden mit gespaltener Zunge und begründen oder rechtfertigen Waffenlieferungen. Die gefährlichste Weltanschauung ist die Weltanschauung derer, die die Welt nie angeschaut haben (Humboldt). Man kann nicht viel von der Welt gesehen haben, um russische Sicherheitsinteressen zu ignorieren, die seitens der Nato und des Westens permanent verletzt werden. Die Amerikaner haben 1964 mit Nuklearkrieg gedroht, wenn die Sowjetunion nicht ihre Atomraketen aus Kuba abzieht, obwohl sie selbst schon Atomraketen in der Türkei stationiert hatten. Jetzt war es erklärte Absicht der Nato, Atomraketen in der Ukraine zu stationieren. Aber man spricht Russland Sicherheitsinteressen kategorisch ab. Welch eine verlogene Politik. Weder kann man eine Aggression mit verletzten Sicherheitsinteressen begründen, noch kann und darf man diese ignorieren, wenn sie tatsächlich existieren. Man muss sich als Putin-Versteher beschimpfen lassen, wenn man nicht bereit ist, die verletzten Sicherheitsinteressen Russlands zu ignorieren. So wie man sich als Antisemit verunglimpfen lassen muss, nur weil man die israelische Politik gegenüber den Menschen in den annektierten Gebieten verurteilt.
Die eigentliche Zeitenwende ist nicht der Angriffskrieg Russlands, wie der Westen meint, sondern war schon der völkerrechtswidrige Angriffskrieg der Nato 1999 gegen Jugoslawien. Der Staat auf dem Balkan mit seiner serbischen Mehrheit sollte zerstückelt werden, um ihn aus westlicher Sicht besser beherrschen zu können. Diese Gelegenheit hat sich für den Westen jetzt wieder gegen die Großmacht Russland eröffnet. Der Westen musste wegen seines Angriffskrieges keine Sanktionen und keine Waffenlieferungen an Jugoslawien fürchten. Im europäischen Westen war von diesem brutalen Nato-Krieg nicht viel zu spüren. Der Widerstand gegen den völkerrechtswidrigen Nato-Krieg hielt sich im halb rot/grün getünchten Deutschland stark in Grenzen. Ganz anders jetzt beim Krieg gegen die Ukraine. Das liegt an den festgezurrten Feindbildern.
Nach dem Putsch auf dem Maidan 2014 wollte sich der Donbass selbstständig machen und sein Selbstbestimmungsrecht wahrnehmen. Die Ukraine hat mit Krieg gegen den Donbass geantwortet. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker ist eines der Grundrechte des Völkerrechts. Ein Volk hat das Recht, frei über seinen politischen Status, seine Staats- und Regierungsform und seine wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung zu entscheiden. Die Ukraine besteht einerseits auf sein Recht auf Freiheit von Fremdherrschaft, verwehrt aber dem Donbass sein Selbstbestimmungsrecht. Das Thema ist im Westen tabu, bzw. wird sorgsam gemieden. Klar, denn es gibt separatistische Bewegungen (z.B. die der Rojava in der Türkei und in Syrien), die der Westen unbedingt unterdrücken will. Ganz anders im Kosovo, dem die NATO mit ihrem brutalen Angriffskrieg nach dem Prinzip der Selbstbestimmung zur „Unabhängigkeit“ verholfen hat. Jetzt bildet das Kosovo ein NATO-Vorposten gegen Serbien und ist Standort der größten US-Luftwaffenbasis auf dem Balkan. Die Liste dieser ungerechten Doppelmoral ist unendlich lang.
Russland, China und mit ihnen die andere Hälfte der Welt, sehen die Entwicklung hin zu einer multipolaren und weg von der unipolaren Welt, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion entstandenen ist. In einer multipolaren Welt kann der Westen nicht mehr dem Rest der Welt seine Werte aufzwängen. Und die USA als die Führungsmacht des Westens kann nicht mehr den Weltpolizisten spielen. Die unipolare Welt will eine unabhängige und gleichberechtigte Entwicklung ihrer Gesellschaften und Wirtschaft nach ihren eigenen Maßstäben, ihren Werten und Grundsätzen, ihrer kulturellen und historischen Entwicklung ohne Bevormundung und Drohungen durch den Westen.
Die Kräfteverhältnisse in der Welt haben sich verändert. Russland ist so erstarkt, dass es einer weiteren Ausdehnung des NATO-Gebiets militärisch entgegentritt. China hat wirtschaftlich mit dem Westen gleichgezogen. Und die Sanktionierten der Welt sind zu einer solchen Macht geworden, dass sich Russland und China auf sie stützen können.