Schattenväter / Fremde Väter / Verratene Kinder
Der Dokumentarfilm aus 2005 „Die Schattenväter“ zeigt Söhne berühmter Eltern: Matthias Brandt und Pierre Guillaume. Beide Väter, also der Bundeskanzler wie auch Kanzlerspion, hatten wenig Zeit, sagen ihre Söhne. Beide Väter haben das Leben ihrer Söhne überschattet und die Söhne kaum eine innere emotionale Bindung zu ihren Vätern. Für Matthias war es ein „emotional behinderter Familienvater“, für Pierre mehr eine Kunstfigur einer geheimdienstlichen Inszenierung. Während Matthias sich noch vor dem Tod seines Vaters mit diesem versöhnt hat, tat das Pierre nicht mehr. In der Doku hatte Matthias mehr über seinen Vater zu erzählen. Das tat Pierre Boom, der Sohn des Kundschafters Günter Guillaume schon 2004 in seinem Buch „Der fremde Vater“. Über die näheren Umstände, die zum Rücktritt des Bundeskanzlers Brandt führten, erfährt der Leser nicht viel Neues. Auch Pierres Schilderungen über die DDR und deren Staatssicherheit kommen nicht über sattsam bekannte Darstellungen ohne Tiefgang hinaus.
Umso mehr interessiert die tragische Geschichte eines Sohnes, der sich völlig vom Vater lossagt. Die Sicht des Vaters auf die tragische Geschichte, wie er seinen Sohn verliert, bleibt unbekannt. In der Geschichte bestätigt sich manche Erfahrung, dass politische Ereignisse, soweit sie in verschiedene Richtungen gelenkt und wahrgenommen werden, einen hohen Anteil an einer Trennung von Vater und Sohn haben können. So wie eine Mauer einen tiefen Riss in der Gesellschaft zementieren kann, so kann auch deren Abriss zu einer tiefen Spaltung in Familien führen. Wenn „Freiheit immer die Freiheit der Andersdenkenden ist“ (R. Luxemburg), muss die Enttarnung des Vaters nicht zwingend zum Bruch mit dem anders denkenden Vater führen. In der Pubertät ist fast jeder Vater für den Sohn ein Schattenvater, mehr oder weniger. Und oft sind es nicht die Väter, die eine Beziehung überschatten, sondern gesellschaftliche Umbrüche, wie die in der DDR 1990.
Pierre war 17 Jahre alt, als seine Eltern am 24.4.1974 als Kundschafter der DDR (heute Spion) enttarnt wurden. Bis zur Verhaftung hatte er ein relativ normales Verhältnis zu seinen Eltern und eine „glückliche Kindheit“. Gestern noch war sein Vater für ihn der „rechte Sozi“ und plötzlich war er der „kommunistische Spion“, „DDR-Agent“, „Landesverräter“ und „Verbrecher“. Auf sich allein gestellt, war Pierre mit dieser Situation überfordert. Die Hauptverwaltung Aufklärung des Ministeriums für Staatssicherheit (HVA des MfS, heute kurz und undifferenziert Stasi) hatte zwar einen Maßnahmeplan im Ernstfall der Enttarnung für Kundschafter, offensichtlich nicht aber für Familienangehörige. Er fühlte sich missbraucht und betrogen und verstand nicht, warum ihn seine Eltern nicht auf diesen Fall vorbereitet hatten. Mit Fragen der Konspiration, ohne die kein Geheimdienst der Welt existieren kann, hatte er sich noch nicht beschäftigt. Daher scheint es nicht gerechtfertigt zu sein, dass Pierre seinem Vater „leichtfertigen Umgang mit Verantwortung und der Wahrheit“ nachsagt.
Sozialisiert wurde Pierre in der BRD, lebte bei Bonn-Godesberg und ging dort noch zur Schule. Bis dahin hatte er keine Ahnung, dass seine Eltern ein politisches Doppelleben führten, so wie ein Schauspieler, der seine Rolle spielt. Der Sohn ordnete sich politisch links von seinem Vater ein. Leider erfährt der Leser nicht näher, welche Vorstellungen Pierre von „links“ hatte, soweit sie über die Mainstream-Meinung hinausging. Seine Eltern jedenfalls konnten ihn ja schlecht politisch links erziehen. Nach der Enttarnung schien alles verkehrt herum zu sein. Der Sohn viel aus allen Wolken und hatte lange gebraucht die Ereignisse einzuordnen.
Davon, wofür seine Eltern standen und riskierten ins Gefängnis zu gehen, hatte er lediglich naive Vorstellungen. Dass sein Vater glaubte, sich mit seiner geheimdienstlichen Tätigkeit für den Frieden und gegen Atombomben einzusetzen, für ein besseres Deutschland, in dem z.B. alte Nazis endlich zur Verantwortung gezogen werden, war für den Sohn höchstens kommunistische Propaganda, Teil einer Verschwörungstheorie.
Das änderte sich auch nicht mit den Recherchen zu seinem Buch. Seine Vorstellungen von der DDR waren wohl eher typisch für einen BRD-Schüler. Man erfährt in seinem Buch nicht, welche Vorbildung Pierre über die DDR hatte, bevor er in die DDR übersiedelte, um dort 8 Jahre auf die Freilassung und Rückkehr seiner Eltern zu warten. Seinen Schilderungen nach zu urteilen, waren es die üblichen Klischees eines biederen Bundesbürgers, der sein Wissen aus Funk und Fernsehen, Presse und Schule speiste, wie: „Uniformierte, militärische Schulveranstaltungen, die an die Nazizeit erinnern“, die „Verschwörungstheorien der DDR-Propaganda über den 17. Juni 1953“, das Grau in Grau in den Straßen, die unmoderne Kleidung in den Kaufhäusern, die primitiven Autos, auf die man so lange warten musste usw. usw.. Diese Klischees können eine nachhaltige linke Einstellung eigentlich nicht erschüttern. Aber was ist links? Man kann linke Wertvorstellungen nicht ohne Systemvergleich verstehen. Werte der Aufklärung, wie Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität, sind eigentlich nicht vereinbar mit dem Systemmodell Kapitalismus und können sich dort auch nicht frei entfalten. Der real existierende Sozialismus war der Versuch die kapitalistische Gesellschaft zu mehr Demokratie und sozialer Gerechtigkeit zu führen. Im realen Sozialismus wurden Utopien zunehmend durch Ideologie ersetzt, der Kapitalismus wird dagegen als Alternativlos hingestellt. D.h. die Spannung nach einer nicht existenten gerechteren Welt (Utopia) bleibt erhalten. Auch Pierre hat es nicht vermocht das Potenzial linker Alternativen zu erkennen.
Aus seiner undifferenzierten Betrachtung hatten die Leute in der DDR keine sozialistischen Visionen. Die nahm er für sich in Anspruch. Er meinte auch nach Freilassung und Rückkehr des Vaters links von ihm zu stehen. Sein Beitritt in die SED, „um Leuten wie seinen Vater nicht die Definition von Sozialismus zu überlassen“, war wohl eher seiner unreifen, nicht nachhaltigen Vorstellung von Sozialismus geschuldet.
Die Einflussnahme seines Vaters empfand er zunehmend als Belastung und Bedrohung. Dass sein Vater sich Sorgen um seinen Sohn machte zog er nicht in Betracht. Seine Abneigung ging letztendlich soweit, dass er den Kontakt des Vaters zu seinem Sohn und zu seinem Enkelsohn auf ein „Minimum reduzierte“, um seine „Familie zu schützen“. Auch die Fürsorge des MfS in der DDR und war für ihn immer mehr eine Belastung, trotz aller Vorteile und Privilegien, die er auch gern in Anspruch nahm.
War es das „eisenhart ideologische Denken des Vaters“ (Berliner Zeitung) oder die pubertär gesteuerte Antihaltung des Teenagers zum Vater, die zur Trennung geführt hat? So oder so, tragisch ist die Geschichte allemal und findet unter jeweils anderen Umständen tausendfach statt.
Angenommen der Vater hat seinen Sohn geliebt, wovon ausgegangen werden kann, muss ihn die Einstellung seines Sohnes hart getroffen haben. Dass ausgerechnet der eigene Sohn zu denen gehörte, die seine Lebensleistung kaum achteten oder geringschätzten, muss deprimierend für den Vater gewesen sein. Gar niederschmetternd muss es für den Großvater gewesen sein, wenn ihm sein Enkelkind entzogen wird. Diese Macht haben Eltern. Wird diese missbraucht, kommt es zu großen Verwerfungen bei allen Beteiligten. Eltern, die diese Macht ausüben, werden die Verwerfungen nicht wahrnehmen wollen. Der „bestrafte“ Großvater wird seine Schlussfolgerungen ziehen. Der Sohn wiederum wird das als Bestätigung für sein Vorgehen auslegen.
Auch die zeitliche Distanz führte bei Pierre nicht zu der Erkenntnis, dass es nachteilig für die Enkelkinder ist, ihnen den Großvater zu entziehen. Mütter, die den Vätern das Kind entziehen, Eltern, die den Großeltern den Enkel vorenthalten, wissen nicht, was sie dem Kind antun. Männer sind vielleicht nicht die besseren Mütter, aber Studien belegen, dass Männer in der Erziehung eigene Qualitäten zeigen, die für Kinder genauso wichtig sind, wie die der Mutter. Ebenso wichtig wie die eigenen Qualitäten der Großeltern. Entzieht man Kindern einen Teil dieser erzieherischen Qualitäten ist das für sie nachteilig, wenn sie nicht andere Quellen außerhalb der Familie nutzen können, die diese Qualitäten kompensieren.
Pierre hat als Teenager seine Verachtung des politischen Systems in der DDR auf seinen Vater übertragen. Er konnte nicht verstehen, dass seine Einstellungen den Vater verletzen. Er konnte auch nicht verstehen, dass der Vater sich wünschte von seinem Sohn gebraucht zu werden. Für Pierre war sein Vater lediglich ein „reformunwilliger Kommunist“, eine „Person eines angepassten, staatstragenden Funktionärs“.
Er ist 1975 auf Wunsch seiner Eltern und des MfS übergesiedelt und hat in der DDR 13 Jahre gelebt, wurde dort aber nie heimisch. Um wieder ausreisen zu können, legte er 1 Jahr vor der Wende seinen Namen Guillaume in Abstimmung mit dem MfS ab und übernahm den Mädchennamen seiner Mutter. In seiner Begründung zum Antrag auf Ausreise aus der DDR und seiner Austrittserklärung aus der SED an den Berliner Bezirkssekretär der SED Schabowski schrieb er, dass er viel unternommen hätte heimisch zu werden, dass er das „Lebenswerk seines Vaters achte“ und dass er die „geleistete Arbeit seiner Eltern“ weder „in Frage stellen noch Herabwürdigen“ wolle. Das erscheint vor dem Hintergrund seiner „freiwilligen Entscheidungen“ (z.B. Abbruch der Beziehung zum Vater, Entzug des Enkels usw.) weniger ehrlich als vielmehr zweckdienlich.
In seiner Erinnerung sieht Pierre verschiedene Väter: Den Vater als Kanzlerspion, der sich in der Westzeit als rechter Sozialdemokrat gegeben hat. Solange er zum Umfeld von Willy Brandt gehörte, war der Sohn stolz auf seinen Vater. Zum zweiten den Vater in der DDR, der sich nach Meinung Pierres schnell dem Denken und der Sprache der Machthaber angepasst hat. Zum Dritten der Vater in den 5 Jahren nach dem Zusammenbruch der DDR. Er sah seinen Vater sowohl in der BRD als auch in der DDR jeweils auf der Seite des Establishments.
Pierre glaubt, dass sein Vater als Diener zweier Herren eine gespaltene Persönlichkeit war und dass daran ihr Verhältnis kaputt gegangen sei. Sicher ist es auch für Pierre schwierig, seinen eigenen Anteil am Scheitern einer Beziehung zu erkennen. Sein Vater wäre nicht Kanzlerreferent geworden, hätte er diesen Job nicht auch vollinhaltlich ausgefüllt und mit seiner ganzen Persönlichkeit dahinter gestanden. Deswegen aber dem Vater nachzusagen, er wusste nicht wo er stand, ist selbstgerecht. Einen Job rechts oder in der politischen Mitte zu erledigen und trotzdem eine linke Einstellung zu haben, sind zwei verschiedene Dinge. Müssten sich z.B. alle Beamten im öffentlichen Dienst outen, würde vielleicht ein hoher Anteil wegen ihrer linken Einstellung entlassen werden. Im Osten gab es zwar keine Beamten, aber ein ähnliches Problem, nur umgekehrt. Und die, die in der DDR nachhaltige sozialistische Visionen hatten, können sich heute oft nicht mehr outen, um nicht ihren Arbeitsplatz zu gefährden. Meinungsfreiheit hat Grenzen. Der Vater sieht sich in seinem Buch „Die Aussage“ aus 1986 als Mensch mit 2 Identitäten, aber mit einem Gesicht ohne Maske. Sein Auftrag „im Interesse der besten Sache der Welt“ schützte ihn vor Persönlichkeitsspaltung. Aber für Günter Guillaume war es nach 18 Jahren in der BRD und 7 Jahren im Gefängnis sicherlich nicht einfach sich auf die Verhältnisse in der DDR einzustellen. Wegen seiner Verdienste war er hochgeachtet und erhielt 1985 an der Hochschule des MfS die Ehrendoktorwürde (Bild links).
Andererseits war er als Kundschafter abgeschaltet. In der BRD hatte er als Kanzlerreferent beruflich noch etwas dargestellt und einen Job, der ihm Spaß machte. Mit der Situation auf dem Altenteil in der DDR musste er erst einmal klarkommen. Sein Sohn zeigte für diese Probleme seines Vaters kein Verständnis.
Den Versuch seines Vaters, Kontakt zu ihm herzustellen, nachdem er diesen abbrach, tat der Sohn als „Inszenierung“ ab. Pierres in der DDR geschlossene Ehe wurde nach seiner Ausreise wieder geschieden. Er hat sich als erziehungsberechtigter Vater um den älteren seiner beiden Söhne gekümmert. Da hat die heutige Generation viel dazu gelernt und ist im Umgang mit den Kindern besser als viele ihrer geschiedenen Eltern. Interessant wäre zu erfahren, ob sich seine Sicht auf eine Vater-Sohn-Beziehung geändert hat. Schließlich kann auch er nicht ausschließen, dass sich sein Sohn irgendwann gegen ihn wendet. Pierre ist nicht zu wünschen, dass er das gleiche Schicksal erleiden muss, wie er mit seinem Vater, aus welchen Gründen auch immer.
Für Pierre war sein Vater ein Verräter, weil er Menschen (insbesondere den Bundeskanzler), die ihm vertrauten, verraten hat. Rein moralisch mag das so sein. Aber wer geheimdienstlichen Verrat verurteilt, ohne die politische Zielrichtung eines Geheimdienstes zu hinterfragen, müsste konsequenterweise für die Abschaffung aller Geheimdienste sein. Spione und Agenten haben nur ein Auftrag: Geheimnisse des Gegners abzuschöpfen um sie an den Auftraggeber weiterzugeben. Bei Kundschaftern war das nicht anders, nur mit unterschiedlicher politischer Motivation. Der Ausspionierte betrachtet das logischerweise als Verrat. Pierre meint Geheimdienste nicht per se in Gut und Böse zu unterscheiden. Bekannt ist aber nur seine einseitige Verurteilung der Stasi. Da reitet er auf einer Welle. Auf den Tag, dass auch Akten westlicher Geheimdienste eingesehen werden können, müssen wir noch lange warten.
Heute werden Whistleblower wie Edward Snowden strafrechtlich verfolgt, nur weil sie Herrschaftswissen transparent machen, und sei das Wissen noch so gefährlich . Nicht die Offenlegung von Verstößen gegen die Verfassung durch Snowden ist eine Straftat, sondern das Ausspähen von fremden Daten oder von Regierungen, sowie die millionenfache Überwachung durch die NSA. Die Rechtsauffassung des Westens misst hier, wie auch in Fragen der Menschenrechte, der Anwendung von Krieg als Aggressor usw., mit zweierlei Maß, ist zynisch und menschenverachtend. Die Bundesregierung verkauft uns für dumm, wenn sie meint, die Entscheidung Snowden auszuliefern, liegt nicht in ihrem politischen Ermessen (Wolfgang Nešković). Vielmehr ist es „Feigheit vor dem Freund“.
Doppelagenten wie Stiller, der 1979 aus der DDR flüchtete und duzende Kundschafter des MfS verraten und in der BRD ans Messer geliefert hat, werden heute gefeiert. Verrat ist nur auf einer Seite strafbar. Selbst MfS-Mitarbeiter, die er für das MfS geworben hat, hat er ans Messer geliefert. Stiller hat auch seine Frau und seine 2 Kinder verraten und sich nie wieder um sie gekümmert. Er hatte auch keine Visionen wie die meisten Kundschafter des MfS, sondern begann Verrat nur aus niederen Gründen. Das war der wesentliche Unterschied zwischen Agent und Kundschafter. Zur millionenfachen Überwachung auch Deutscher meint ein Stiller lapidar, dass die Leute selbst schuld seien, wenn sie Ihre Daten ins Internet stellen. Stiller ist ein Wendehals par excellence, ein typischer Opportunist. Eine Tochter, dessen Vater durch Siller verraten wurde, meint ihr Vater war ein verratener Verräter. Sie und eine Tochter des Verräters Stiller schrieben 2003 gemeinsam das Buch „Verratene Kinder“. Beide Kinder fühlten sich von Stiller verraten und waren nach ihren Nachforschungen von ihm als Mensch nur noch enttäuscht.
»Kinder lieben anfangs ihre Eltern.
Wenn sie älter werden, beurteilen sie sie.
Bisweilen verzeihen sie ihnen.«
Oscar Wilde